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Ein Interview mit einem indischen
Musikwissenschaftler:
Teil 2 von
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Jens Egert: Es scheint keine
Evolution in indischer klassischer Musik zu geben. Die Tradition hat eine
Reinheit der Musik bewahrt, aber gleichzeitig gab es keine wesentlichen
Veränderungen seit Jahrhunderten.
Ashok Ranade: Es ist
nicht wahr, dies zu sagen, denn irgendwie sind diese Darstellungen aufgekommen,
weil chronologische Einzelheiten über die indische Musik fehlen. Wenn man
sagt, dass es keine Evolution in indischer Musik gibt, dann meint man
vielleicht, dass wir die Khyal Musik (Khyal = Fantasie, farbige und ideenreiche
Form des klassischen Gesangs) seit so und soviel Jahrhunderten haben. Es ist
nicht wahr, weil der Begriff Gharana (= traditionelle Schule, die einen
bestimmten Musikstil vertritt) sich erst im 19. Jahrhundert
herauskristallisiert hat. Wenn man verfolgt, dass die Gharanas viel zur
ästhetischen Verfeinerung der indischen Musik beigetragen haben, dann muss
man sagen, dass dies eine wichtige Entwicklung ist, die kaum 100 Jahre alt ist.
Deshalb denke ich, dass chronologisch gesehen keine genaue und geeignete
Geschichte der indischen Musik geschrieben wurde. Darum gibt es Leute mit
diesen Gedanken, dass sich indische Musik nicht verändert hat. Sie hat
sich sehr verändert, aber die Veränderung wurde nicht dokumentiert.
J.E.: Wäre da irgendein Bereich für eine
Veränderung und wie würde die Veränderung aussehen?
A. R.: Es wird immer einen Spielraum für eine
Veränderung geben, in jeder Musik, die es wert ist. Sie wird sich
verändern, ganz gleich aus welchem Land sie kommt und welches System ihr
zugrunde liegt. Besonders Indien ist bekannt für die Fähigkeit der
Assimilation. Es hat immer assimiliert und nie Dinge fortgeworfen als
Fremdkörper. Deshalb haben wir genug Raum zur Veränderung. Die
Richtung der Veränderung wird hauptsächlich Rücksicht auf die
Tonfarbe nehmen, an welcher es vielleicht heute in der indischen Musik mangelt.
Es wird mehr Instrumentalmusik geben, welche verglichen mit der Gesangsmusik
geringer vorkam. Es ist sehr bezeichnend, dass wir erst in den letzten 50
Jahren Sitars, Sarods und Tablas bekommen haben und sie in den Vordergrund
gerückt sind. Die Instrumentalmusik Indiens hat versucht, nur zu kopieren,
was Sänger gemacht haben. Es ist erst seit kurzem, dass die
Instrumentalisten die Möglichkeit erkannt haben, ihr eigenes Medium zu
entwickeln. Deshalb ist dies eine Richtung der Veränderung. Es wird mehr
Instrumentalmusik mit einer unterschiedlichen Aussage geben.
J.E.:
Tradition besteht immer aus zwei wesentlichen Kräften, konservative
und progressive. Beide müssen im Gleichgewicht sein. Wie sehen Sie die
Zukunft der indischen klassischen Musik von diesem Standpunkt aus?
A. R.: Ja, das richtige Gleichgewicht kann erlangt werden,
vorausgesetzt, dass sich die Musiker stärker mit der Musik
auseinandersetzen, und wenn wir den kulturellen Aspekten und der Erziehung mehr
Aufmerksamkeit schenken. Wenn der Staatshaushalt den Bereich Erziehung erst an
37. Stelle platziert, dann wird das ein sehr schwieriger Kampf, um das
Gleichgewicht in kulturellen Dingen zu erhalten. Ebenso müssen diejenigen,
die im Bereich der Erziehung arbeiten, der Tatsache mehr Beachtung schenken,
dass es ohne wert orientierte Erziehung sehr schwierig sein wird, den Kampf mit
der modernen Technologie und Industrialisierung zu gewinnen. Wenn man ein
Gleichgewicht zwischen den Kräften finden will, muss man zuerst verstehen,
dass Indien Indien ist. Es hat seine eigene lange Tradition, die nicht nur
konservativ, sondern auf der anderen Seite assimilierend ist. Zweitens
müssen wir auch verstehen, dass jedes Land eine unterschiedliche Art von
Fortschritt. hat, um den Weg der Entwicklung zu gehen.
J.E.: Hat
die indische klassische Musik Einfluss auf die indische Filmmusik oder
umgekehrt?
A. R.: Ja, die klassische Musik hat großen
Einfluss auf die indische Filmmusik, besonders in den frühen
dreißiger Jahren von 1931 fortschreitend bis ungefähr in die
sechziger Jahre. Die indische Filmmusik wurde sehr stark durch die klassische
Musik geprägt. Diese hatte all die Komponisten der früheren Zeit
beeinflusst, die grundlegend in der klassischen Tradition ausgebildet worden
waren. Erst seit kurzem bekommen wir Leute, die sich mehr an den nichtindischen
Musiksystemen orientieren. Wir haben Komponisten, die wissen, was
Orchestrierung bedeutet, die vielleicht etwas über organisatorische
Prinzipien wie Harmonie und all dies wissen. Sie versuchen, häufiger
lateinamerikanische oder europäische Instrumente einzusetzen. Die
klassische Musik wurde von der Filmmusik nicht in dem Maße beeinflusst.
Aber zur gleichen Zeit sind wegen des Playback-Gesangs und der ausgefeilten
Produktion der Filmmusik indische Musiker nun zumindest gezwungen, ihre Stimmen
zu ausgefeilten Produkten für die Musikdarstellung zu machen.
J.E.: In weichem Ausmaß beeinflusst oder verändert
das moderne Leben die indische klassische Musik?
A. R.: Sie
verändert sich ständig, aber nicht die ganze Zeit im selben
Maße oder in eine Richtung.
J.E.: Zum Beispiel haben heute
die Menschen weniger Zeit, lange Konzerte wie früher zu hören.
A. R.: Ja, das stimmt. Gleichzeitig können es sich deshalb
die indischen Musiker nicht leisten, sich zu wiederholen. In einer Zeit von
drei Stunden müssen sie das Musikmaterial verdichten, wozu sie vor 50
Jahren vielleicht sechs Stunden benötigt hätten. In gewisser Hinsicht
ist es gut, dass es eine Zeitverkürzung gibt und wir sind uns dessen
bewusst. Gleichzeitig ist Musik immer das Letzte, das sich verändert.
Ihrer Natur gemäß versucht sie, an dem festzuhalten, was sie bisher
war und deshalb verändert sich Musik als Letztes. Aber wenn sie sich
verändert, kann man sicher sein, dass die Gesellschaft sich verändert
hat.
J.E.: Glauben Sie, dass indische und westliche Musik einen
Weg zu einer Synthese finden können?
A. R.: Nun, ich
würde es nicht Synthese nennen, aber ich denke, dass das Verständnis
für Harmonie inzwischen in gewisser Weise in das indische musikalische
Denken eingetreten ist. Wenn wir Pandit Ravi Shankar sehen, wie er versucht,
etwas wie eine sinfonische Form zu komponieren oder wenn man versucht,
westliche Instrumente einzusetzen, um herauszufinden, wie sie mit indischen
Instrumenten kombiniert werden können, dann ist es offensichtlich, dass
wir versuchen, etwas zu tun, in dem beide Systeme in irgendeiner Weise zusammen
kommen können.
J.E.: Bleibt dann die ursprüngliche
Kraft noch erhalten?
A. R.: Ich bin kein großer Freund von
Reinheitsbeweisführung. Ich denke immer, dass die Dinge sich
verändern und wenn sie etwas Kraft besitzen, dann bleiben sie, andernfalls
verschwinden sie. Deshalb sind alle diese Experimente gut. Doch könnte es
mit größerer Ernsthaftigkeit gemacht werden, statt sich um
Popularität zu kümmern. Sind wir erst überzeugt, können
diese Dinge für den Fortschritt in Betracht gezogen werden. Zum Beispiel
war die Violine nicht unser eigenes Instrument, aber wir versuchen, unsere
Musik sehr gut durch das Instrument auszudrücken, und zwar mit
großem Erfolg. Also können diese Dinge immer ausprobiert werden und
man sollte es versuchen. Wenn man es möchte, kann man einen Weg finden.
J.E.: Welches sind die wichtigsten Merkmale eines
hervorragenden Musikers?
A. R.: Nun ich meine, diese Frage ist
eigentlich keine Frage, denn sie würde dazu führen eine ganze
Lebensphilosophie usw. darzustellen. Wenn man ein guter Künstler sein
möchte, muss man als erstes imstande sein, Risiko zu tragen, auch das
Risiko, dass etwas misslingt. Man braucht eine Überzeugung von den eigenen
Ideen. Ob diese musikalischen Ideen anderen gefallen oder nicht, sollte nichts
ausmachen. Dies ist das Erste und Einzige. Alles Andere, was auch für
jeden anderen Künstler auf jedem Gebiet Bedeutung hat, gilt auch für
Musiker. Man muss hart arbeiten, muss einen Guru haben und dies gilt für
Alle. Besonders in der Musik ist es so, wenn man versucht populär zu sein,
geht es schief.
J.E.: Gibt es eine Gefahr in indischer Musik, an
vorkomponierten Mustern festzuhalten, so dass Musik lediglich Routine wird,
anstelle tief empfundenen Ausdrucks und spontaner Schöpfung?
A.
R.: Ja es gibt eine Gefahr und wir haben mit dieser Gefahr gegenwärtig
sehr viel zu tun. Wegen der großen Musikfeste, Massenmedien,
Musikaufnahmen und dem Druck der Kommerzialisierung wird Musik vorher
komponiert und Sie haben Recht, wenn Sie von der Gefahr sprechen. Es gilt,
diese Gefahr zu erkennen.
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